Dramen, Tragödien, Tragik, Tragikomödien: 22 Geschichten über verblühte Liebe
Serie: Jurist und Autor Fritz Willig über Scheidungen und mehr - heute: „Der doppelte Verkehrsunfall“.
Foto:Reinhard Kroll
Etwa jede vierte Ehe in der Bundesrepublik scheitert. Hinter dieser nüchternen Zahl, auch Scheidungsquote genannt, verbergen sich Dramen, Tragödien, Tragik, Tragikomödien. Die Liebe, auch die verblühte, ist ein einfallsreicher Regisseur auf der menschlichen Bühne. Als das Buch geschrieben wurde, galt im Ehe- und Familienrecht noch das Verschuldensprinzip. Ein Anwalt hat in dem im Jahr 1976 veröffentlichten Buch von Fritz Willig „Miteinander – Auseinander“ 22 authentische Scheidungsfälle kompetent, unterhaltsam, kurzweilig und launig beschrieben, die beispielhaft sind für das Thema Scheidung. Der LeineBlitz wird diese 22 Scheidungsfälle in einer Serie jeden zweiten Sonntag veröffentlichen. Fritz Willig, 1941 geboren und in Laatzen aufgewachsen, hat sich als Rechtsanwalt in aufsehenerregenden Wirtschafts- sowie Mordprozessen sowie in zahlreichen Familien- und Scheidungsangelegenheiten einen guten Namen über die Stadtgrenzen hinaus erworben. Überdies wurden bisher 13 Bücher von ihm veröffentlicht. Heute geht es um „Der doppelte Verkehrsunfall“.
Die Liebe, oder was man dafür hält, fragt nicht nach Ort und Zeit. Auch die erotischen Schwingungen kennen keine Barriere. Selbst in einer gotischen Kathedrale können sie einen überkommen, ebenso bei Vorstandssitzungen, im Zahnarztstuhl (bei der entsprechenden Assistentin), im Museum, zwischen den Regalen des Supermarkts und natürlich auch im Krankenhaus. Krankenhäuser können nach meinen anwaltlichen Erfahrungen überhaupt ein fruchtbarer Boden für erotische Stimmung sein. Manche Ehe und mancher Scheidungsfall hat hier seinen Anfang genommen. Das Schicksal spann seine Fäden auf einer Straßenkreuzung. Zwei Wagen prallen aufeinander, und zwei Damen mussten mit erheblichen Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Völlig unversehrt blieb der einzige Mann bei dieser Kollision. Er hatte, neben seiner Frau, am Steuer des einen Fahrzeugs gesessen. Den Zusammenstoß kann der nicht verhindern: Die junge Dame im anderen Wagen war ebenso zügig wie absolut desinteressiert an der lästigen Vorfahrtsregelung auf die Kreuzung gebraust,
Der unverletzte männliche Verkehrsteilnehmer, Gastwirt von Beruf, an die zwei Zentner Nettogewicht, erwies sich nicht nur als liebender Gatte, sondern auch als Gentleman. Er besuchte nicht nur regelmäßig seine Frau, eine nahezu verblühte Endvierzigerin, im Krankenhaus, sondern schaute wenige Tage nach dem Unfall auch eine Etage tiefer im Zimmer 32 vorbei.
Die junge Dame (sie hatte mit ihrem schwarzen Haar und den großen, etwas schräggestellten Augen einen Stich ins Spanische) errötete lieblich, als der Zweimetermann ihr neun gelbe Nelken aufs Bett legte. Er wünschte gute Besserung, sagte der Gastwirt, und sie antwortete, dass es ihr leid wegen der Vorfahrt. Ihre Stimme hatte einen weichen, gruttalen Klang. Verdammt, dachte der Kneipier. Und das war der Anfang vom Ende. Vom Ende seiner Ehe.
Die Wissenschaft, ob Soziologie, Psychologie oder sonst ein gelehrtes Fach, hat noch nicht entdeckt, was einen Mann bei der Begegnung mit einer ganz bestimmten Frau elektrisiert hat. Weil schönere Damen ihn kalt lassen, ist ausgerechnet die eine, ohne es zu ahnen, zu einer brennenden Lunte in seiner herben Gefühlswelt geworden. Ist es ein Gleichklang der Hormone, eine geheime Seelenverwandtschaft oder nur eine Laune des Augenblicks? Ein Geheimnis bleibt, warum Männer, reife Männer, die schon manchen Sturm erlebt haben, plötzlich in Liebe verfallen.
Der Gastwirt erschien jeden Tag im Krankenhaus. Sein Weg führte ihn zuerst in den dritten Stock, wo seine Frau lag und sich sichtlich über ihren liebevollen Ehemann freute. Sonst ist Otto doch gar nicht so rücksichtsvoll, dachte sie. Meine Verletzung muss ihm doch sehr nahe gegangen sein. Zärtlich blickte sie zu ihrem 200-Pfund-Gefährten auf.
Fünf Wochen lang erschien der Gastwirt täglich im Krankenhaus, doch seine Besuche im dritten Stock wurden immer kürzer. Seine Frau, schon fast genesen, fand, dass ihr Mann sich verändert hatte. Er wirkte geistesabwesend, auch hatte er bisweilen etwas Versonnenes im Blick. Das aber beunruhigt sie, denn ihr Otto hatte sich sonst nie versonnen gezeigt, selbst am Tag ihrer Hochzeit nicht. Er war ein derber, aufgeräumter Typ, ein realistisches Mannsbild. Und jetzt diese Verträumtheiten.
Auch seine Garderobe hatte sich verändert. „Du trägst ja eine neue Krawatte“, entfuhr es ihr eines Tages. Ausgerechnet ihr Otto, ein Krawattenmuffel aus Prinzipien, der selbst bei festlichen Ereignissen in seinem Lokal keinen Schlips umband, erschien mit einem schimmernden, seidigen Gebilde in Kardinalrot. Otto murmelte etwas von einem Gelegenheitskauf, sein rechtes Augenlid zuckte nervös, ein untrügliches Zeichen für tiefsitzende innere Spannungen, wie seine Frau aus der Erfahrung von 19 Ehejahren wusste.
Eines Nachmittags, als er sich nach knapp zehn Minuten schon wieder verabschiedete („Muss doch zum Steuerberater“), fragte sie arglos, wie es denn der jungen Dame gehe. Er hatte ihr von seinem Besuch einen Stock tiefer erzählt, und sie hatte sich darüber gefreut. Doch jetzt zuckte Ottos rechtes Augenlid wieder auf das heftigste. Eine Krankenschwester habe ihm gesagt, die Dame sei auf dem Weg der Besserung, erklärte er nebenher. Doch sein sonst so kräftiger Bariton schwankte.
In diesem Moment erwachte der sechste Sinn seiner Frau. Die Ehefrauen, vor allem bei den schon ziemlich Verblühten, ist dieser sechste Sinn märchenhaft entwickelt. Sie wittern die Nebenbuhlerin wie eine Pumakatze die lauernde Gefahr. Selbst Männer mit hohen schauspielerischen Talenten haben erfahren müssen, dass die Doppelrolle: zu Hause treusorgender Ehemann und auswärts diskreter Liebhaber auf Dauer nicht durchzuhalten ist. Eines Tages wird der sechste Sinn der Gattin auf die Fährte. Und Ehefrauen, die eine Spur aufgenommen haben, sind da, ich kann keine Finte abschütteln.
Die Gattin des Gastwirts wartete noch eine Viertelstunde, nachdem ihr Mann war. Dann stand sie auf, zog sich ihren Morgenmantel an und begab sich eine Treppe tiefer. Einen Moment lauschte sie an der Tür von Zimmer 32, einem Einbettzimmer, dann fasste sie behutsam die Klinke an. Mit zwei schnellen Schritten war sie mitten im Raum. Die beiden Menschen auf dem Bett merkten gar nichts von ihrer Anwesenheit. Ihre Umarmung war von jener Intensität, die Zeit und Raum vergessen lässt.
„Ich habe es geahnt, Otto“, sagte die Frau, Eis in der Kehle. Der Satz schlug ein in diesem freundlichen Krankenzimmer wie ein hochbrisanter Sprengsatz. Otto schnellte in die Höhe, doch da krachte schon die Tür ins Schloss. Seine Frau war gegangen, für immer.
Ich habe für Sie die Scheidung durchgeführt und dabei Otto kennengelernt. Ein Mann, mit dem man Pferde stehlen könnte. Doch diese schöne männliche Eigenschaft zählt bei Ehefrauen wenig. Jetzt steht Otto allein in seinem Lokal, auch das Verhältnis mit Zimmer 32 ist passé. Doch irgendwie ist diese Geschichte ein starkes Indiz dafür, dass des Lebens lockende Fülle auch vor Krankenhäusern nicht haltmacht.
